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Montag, 23. Juli

„Doppelpass? Südtiroler brauchen das fürs Selbstbewusstsein nicht“

Girlan. Im Interview mit den „Dolomiten“ spricht SPÖ-Chef Christian Kern über die Krise der Sozialdemokratie, die Sprüche der Populisten und Freude an der Oppositionspolitik.

Südtirol findet er ein Land „zum Neidischwerden“ und eine Südtirolerin ist eine seiner Lieblingskünstlerinnen: SPÖ-Chef Christian Kern.
„Dolomiten“: Herr Kern, die Sozialdemokratie steckt in ganz Europa in einer tiefen Krise. Sind Sie trotzdem ein guter Motivator für die Arbeitnehmer, die vor der Landtagswahl stehen?
Christian Kern: Das müssen die Arbeitnehmer bewerten. Es geht aber nicht um Motivation, sondern darum, gemeinsame Herausforderungen festzumachen. Außerdem haben wir in Österreich bei den letzten Wahlen sogar leicht zulegen können – es hat aber nicht gereicht. Aber es gibt ein paar deprimierende Beispiele in Europa, das stimmt. Das ist ein Auf und Ab und wird sich wieder ändern.
„D“: Warum erfahren rechte, populistische und europafeindliche Kräfte so massiven Zulauf?
Kern: So etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Es hat mit der Finanzkrise begonnen, der Frustration über steigende Arbeitslosigkeit und Reallohnverluste und dem Gefühl, dass für alles mögliche Geld da war, aber nicht für die Grundbedürfnisse der Menschen. Am Ende gab es eine einfache Antwort: Die Flüchtlinge sind schuld. Diesen einfachen Rezepten hat man mit komplexeren Erklärungsversuchen wenig entgegen zu setzen gehabt. Aber auch das wird enden, denn wenn ich mir die Salvinis dieser Welt anschaue, erkenne ich außer Sprüchen keine Lösungsansätze.
„D“: Wenn Salvini aber Schiffe im Meer kreisen lässt und dann Deutschland 50 Flüchtlinge aufnimmt, dann wird er gefeiert...
Kern: Das löst aber das Problem im großen Maßstab nicht. Nur 50 Leute woanders zu haben, das gelingt. Aber für nachhaltige Lösungen braucht es mehr! Man darf nicht vergessen, dass die Regierung Gentiloni, den ich sehr schätze, in Nordafrika wichtige Vorarbeiten geleistet hat, Frau Merkel in der Türkei – und davon profitiert Salvini heute. Das hat zu einer massiven Erleichterung geführt, die Zahl der Flüchtlinge vor allem über das Mittelmeer geht zurück. Da muss man weiter arbeiten. Der Fehler war ja 2011, beginnend mit der Syrienkrise, dass man lange nicht wahrhaben wollte, was sich da zusammenbraut und man Syrien, Jordanien und den Libanon allein gelassen hat. Diesen Fehler dürfen wir kein zweites Mal machen. Wichtig ist mir auch: Die Abschaffung des Asylrechtes ist ein No-Go, das würde die Seele Europas zerstören. Das ist die Lektion, die wir aus dem Zweiten Weltkrieg mitgenommen haben.
„D“: Was können sozialdemokratische Parteien tun, um die Wähler wiederzugewinnen?
Kern: Natürlich ist mir recht, wenn sie wieder die Sozialdemokratie wählen, aber die wirkliche Auseinandersetzung ist die zwischen politischen Strömungen, und zwar jenen, die für eine offene Gesellschaft und europäische Werte stehen und jenen, die einen autoritären Kurs fahren. Extrembeispiele sind Orban, Salvini, Strache auf der einen Seite, Macron und Merkel auf der anderen. Gerade was das progressive Lager betrifft, haben wir vielleicht zu wenig argumentiert, uns nicht mehr getraut zu argumentieren. Ein Beispiel: In Österreich haben wir die niedrigste Kriminalitätsrate seit 10 Jahren. Das ist das Ergebnis konsequenter Arbeit. Aber viele sagen, das stimmt ja gar nicht. Und hier haben wir nicht klar gegengehalten. Wir müssen wieder stärker zu einer Argumentation kommen, die sich auf Fakten stützt. Was aber nicht heißt, dass man Probleme ignorieren darf. Wir haben sie vielleicht eine Zeitlang nicht erkannt. Es gibt soziale Probleme, die aber weniger mit den Flüchtlingswellen zu tun haben als vielmehr mit der nicht geglückten Integration der bis auf die 60er-Jahre zurückgehenden Migration. Das ist auch für die Linke eine Lektion – ich darf Karl Popper zitieren: Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.
„D“: Ein vergleichsweise kleines „Problem“ ist der Doppelpass...
Kern: Ich halte das für einen falschen Weg, weil wir mit der europäischen Einigung eine gemeinsame Perspektive für Südtirol und Österreich gefunden haben. Wenn ich nach Katalonien schaue oder zum Brexit: In Südtirol ist viel erreicht worden, durch die Vernunft aller – der Südtiroler, der Italiener, der Österreicher. Die Südtiroler brauchen das fürs Selbstbewusstsein nicht.
„D“: Wie viel Spaß macht es, Oppositionspolitik zu machen?
Kern: Deutlich mehr als man mir nachsagt. Unsere Partei ist gegründet worden an den Ziegelteichen, wo Viktor Adler als Armenarzt gearbeitet hat. Unser Herz schlägt also nicht am Ballhausplatz, sondern an den Ziegelteichen – das darf man nie vergessen. Wir haben derzeit eine Phase der Besinnung, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Das ist wichtig. Mein Ziel ist nicht, die SPÖ in den nächsten 2, 3 Jahren erfolgreich zu machen, sondern ich will sie in den nächsten 20 Jahren erfolgreich machen – im Sinne der Bewahrung des Erbes.
„D“: Wie gut kennen Sie Südtirol eigentlich?
Kern: Ich habe mich gefreut über die Einladung der SVP-Arbeitnehmer, weil das eine schöne Tradition ist, die wir fortsetzen sollen. Ich hatte öfter die Gelegenheit, hier zu sein. Und ich muss sagen, dass es zum Neidischwerden ist, wie prachtvoll es hier ist. Eine meiner Lieblingskünstlerinnen ist übrigens die Südtirolerin Esther Stocker. Ich habe mein Büro mit ihren Werken ausgestattet – sozusagen eine ständige Erinnerung an Südtirol. Und Südtirol zu unterstützen, hat auch nichts mit Parteipolitik zu tun, sondern ist Herzensangelegenheit aller Österreicher.

Interview: Brigitta Willeit

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